Bericht 17, Juli 2006

Brüssel – Schrägaufzug von Ronquières – Schiffslift von Strépy-Thieu (Belgien) – Chauny (Canal de Saint Quentin, Frankreich)

Wir legen kurz nach 9 Uhr morgens im Königlichen Yachthafen in Brüssel ab und passieren im Laufe der nächsten Stunden nacheinander sechs Schleusen. Wegen der starken Berufschifffahrt müssen wir manchmal bis zu einer Stunde warten. Wir benützen diese Wartezeiten jeweils für Unterhaltsarbeiten am Schiff oder das Erledigen der Korrespondenz. Gegen 18 Uhr kommen wir hinter einem Tankschiff vor der mächtigen Schleuse von Ittre an. Mit ihrer Einfahrt, die im Verhältnis zu den Proportionen der ganzen Anlage eng und niedrig erscheint, wirkt diese Schleuse irgendwie beängstigend.

Im Unterwasser der Schleuse von Ittre

Im Unterwasser der Schleuse von Ittre

Auf unseren Funkaufruf gibt uns der Schleusenwärter den Bescheid, dass heute nur noch der Tanker geschleust werde, wir könnten – wenn wir wollten – am nächsten Morgen um 6 Uhr früh schleusen. Warum nicht wieder einmal eine frühe Tagwache? Die Nacht verbringen wir ruhig und sicher am Ponton im Unterwasser der Schleuse.

Wir übernachten im Unterwasser der Schleuse Ittre

Wir übernachten im Unterwasser der Schleuse Ittre

Am nächsten Morgen fahren wir kurz nach 6 Uhr in die Schleuse ein, in welcher man 14 Meter Höhenunterschied überwindet. Die Schleusenwände wirken wie eine Schlucht.

Mit der Schleuse von Ittre überwindet man 14 Meter Höhenunterschied

Mit der Schleuse von Ittre überwindet man 14 Meter Höhenunterschied

Eine Stunde später, wir fahren auf dem Kanal Bruxelles – Charleroi, nähern wir uns dem Schräglift von Ronquières. Die Schiffe werden hier in zwei gigantischen Wasserwannen von 85.5 Metern Länge und 15 Metern Breite auf Schienen auf eine Distanz von 1.5 Kilometern gezogen. Die ganze Fahrt dauert rund 40 Minuten. Mit dem Bau dieser eindrücklichen Anlage vor bald 40 Jahren konnten Dutzende von Schleusen ersetzt werden, welche zwischen dem tief gelegenen Brüssel und den Plateaus von Brabant und dem Hennegau einen Höhenunterschied von 68 Metern überbrückten.

Auf dem Funk hören wir mit, wie sich das Transportschiff vor uns anmeldet und den Bescheid erhält, er sei am Nachmittag um 15 Uhr an der Reihe. Das bedeutet eine Wartezeit von mehr als 7 Stunden. Natürlich gibt es für uns Schlimmeres, aber wir versuchen unverdrossen unser Glück und melden uns an: «Ronquières, ici Kinette, bâteau de plaisance, vingt-trois mètres, montant». Umgehend kommt die Antwort: «Vingt-trois mètres? C’est parfait, avancez!»

Tatsächlich ist im Becken, das zur Abfahrt bereit steht, gerade noch Platz für ein Schiff unserer Grösse und wir fahren ohne Wartezeit ein. Natürlich erfolgt dieses Manöver im Schneckentempo, weil wir beim Einfahren ja 50 Tonnen Wasser aus dieser gigantischen Badewanne verdrängen müssen.

Einfahrt in die Wanne des Schrägliftes von Ronquières

Einfahrt in die Wanne des Schrägliftes von Ronquières

Christian benützt die Fahrt nach oben, um beim Kapitän des Nachbar-Schiffes die neusten Informationen über die vor uns liegenden Wasserwege einzuholen.

Informationen vom Nachbarkapitän

Informationen vom Nachbarkapitän

Wir sind schon hoch über der «Talstation», als das mächtige Gegengewicht unter unserer Wanne durchfährt.

Das Gegengewicht auf dem Weg nach unten

Das Gegengewicht auf dem Weg nach unten

Kurz vor der «Bergstation»

Kurz vor der «Bergstation»

Der Schräglift hat uns auf eine Hochebene transportiert, von wo aus sich der Blick in die Weite öffnet.

Die Plateaus von Brabant und dem Hennegau

Die Plateaus von Brabant und dem Hennegau

Nach wenigen Kilometern biegen wir auf den Canal du Centre ab, wo uns der nächste technische Höhepunkt erwartet: Der erst vor wenigen Jahren erbaute Schiffslift von Strépy-Thieu.

Schon von weitem sehen wir den Turm des Schiffslifts von Strépy-Thieu

Schon von weitem sehen wir den Turm des Schiffslifts von Strépy-Thieu

Der 1882 gegrabene Canal du Centre verbindet Mons mit Seneffe (wir sind übrigens immer noch in Belgien!) und überwindet 88 Höhenmeter. Dazu wurden seinerzeit 30 Schleusen gebaut. Zwischen 1888 und 1917 wurde der Grossteil dieser Schleusen durch vier Schiffslifte von je 17 Metern Hub ersetzt. Die Wannen haben eine Länge von 45 Metern. Die Konstruktion war und ist insofern genial, als man das physikalische Gesetz der kommunizierenden Gefässe anwandte und damit die Wasserkraft als einzige Energiequelle benützte. Diese vier Schiffslifte waren bis vor wenigen Jahren in Gebrauch. Sie wurden von der UNESCO sogar zum kulturellen Welterbe ernannt.

Auf der Anfahrt zum Schiffslift von Strépy-Thieu

Auf der Anfahrt zum Schiffslift von Strépy-Thieu

Aber mit der Entwicklung der Technik und dem ökonomischen und ökologischen Druck wurden die Binnenschiffe immer grösser. Die alten Wannen waren mit ihren 45 Metern viel zu kurz. Anfangs der achtziger Jahre wurde mit dem Bau eines neuen Schiffsliftes begonnen für Schiffe bis zu 1’350 Tonnen. Dazu wurde ein Teil des Canal du Centre neu angelegt. Seit zwei Jahren ist hier der größte Schiffslift der Welt in Betrieb. Die ganze Anlage ist 177 Meter hoch und überwindet 73 Meter. Die zwei Wannen sind 112 Meter lang und 12 Meter breit und werden mit einer Geschwindigkeit von 20 Zentimetern pro Sekunde gehoben resp. gesenkt. Aber was die Ingenieure des 19. Jahrhunderts konnten – die Wasserkraft für den Liftbetrieb nutzen –, ist offenbar im 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäss. Die beiden Wannen von Strépy-Thieu werden unabhängig voneinander gehoben und gesenkt. Die Anlage sei deshalb pannenanfällig, hat man uns gesagt und in der Tat wird uns vom Kontrollturm gefunkt, wir müssten etwas warten, man habe «un petit problème».

Einfahrt in den Schiffslift von Strépy-Thieu

Einfahrt in den Schiffslift von Strépy-Thieu

Aber wir haben Glück und bereits nach einer halben Stunde schalten die Ampeln auf Grün.

Im Schiffslift von Strépy-Thieu

Im Schiffslift von Strépy-Thieu

Wir fahren andächtig in eine Mischung von U-Bahn-Station, Kopfbahnhof und Maschinenhalle ein, vertäuen unser Schiff und warten, bis die Wannentore geschlossen sind. Dann begeben wir uns auf der Plattform nach vorne und schauen staunend nach unten.

Blick aus dem Schiffslift von Strépy-Thieu

Blick aus dem Schiffslift von Strépy-Thieu

Die Wanne hängt an mächtigen Stahlseilen. Geräuschlos beginnt sie sich zu senken.

Die Wanne beginnt sich zu senken

Die Wanne beginnt sich zu senken

Zuschauer verfolgen das Lift-Spektakel von Strépy-Thieu

Zuschauer verfolgen das Lift-Spektakel von Strépy-Thieu

Für Besucher ist übrigens eine Ausstellung aufgebaut worden, die sehr instruktiv über den Bau und das Funktionieren dieses gigantischen Lifts informiert.

Blick zurück auf den Schiffslift

Blick zurück auf den Schiffslift

Wir fahren noch ein Stück auf dem Canal du Centre. Ab Mons heisst er Canal Nimy-Blaton-Péronnes und auf diesem Kanal fahren wir bis Péruwelz. Am Quai liegt die «M.S. Lauwrence», ein Wohnschiff ähnlich dem unseren, sie führt die Clubfahne der Dutch Barge Association, das Eignerpaar winkt uns und wir beschliessen, nach diesem ereignisreichen Tag hier anzulegen.

Am Quai von Péruwelz (Canal Nimy-Blaton-Péronnes)

Am Quai von Péruwelz (Canal Nimy-Blaton-Péronnes)

Ruud und Trisha van Duinen, Eigner der «M.S. Lauwrence», nehmen uns beim Anlegen die Taue ab und eine Stunde später sitzen wir bereits zu viert in der Abendsonne auf dem Vorderdeck beim Apéritiv.

Am nächsten Morgen fahren wir weiter, diesmal nur ein kurzes Stück, bis nach Péronnes, dicht an der belgisch-französischen Grenze. In der Nähe ist ein Schiffsausrüster, wir benötigen noch zwei 30 Meter lange, solide Taue. Der «Grand Large de Péronnes», ein grosses, schönes Wasserbecken, wirkt leer, aber die Anlegemöglichkeiten sind sehr beschränkt. Dort, wo der Quai frei ist, liegen bösartig quadratische Steinblöcke genau auf der Höhe der Höhe unserer Wasserlinie.

Aber das Glück bleibt uns treu. Auf einem an einem Privatsteg vertäuten Schiff, offensichtlich einem Umbauprojekt, sehen wir einen Mann und eine junge Frau – Vater und Tochter, wie sich herausstellt. Ob wir bei ihm längsseits für einige Tage anlegen dürfen? Oui, naturellement, aucun problème! Er sei nur zufällig kurz auf dem Schiff und fahre wenig später mit dem Auto weg – wir sind ganz für uns.

Längsseits der Troubadour

Längsseits der Troubadour

Am nächsten Morgen hören wir jemand vom Quai aus rufen. Wir klettern aus dem Schiffsbauch und am Quai steht Gérard, den wir zusammen mit seiner Frau Anita im letzten Sommer in Sillery, einem kleinen Hafen am Canal de l’Aisne à la Marne kennen lernten. Jetzt erinnern wir uns auch wieder, dass er uns erzählte, er wohne in Frankreich direkt an der belgischen Grenze und habe seine Jacht in Péronnes stationiert.

Unverhofftes Wiedersehen mit einem alten Bekannten

Unverhofftes Wiedersehen mit einem alten Bekannten

Wir bleiben ein paar Tage im Grand Large de Péronnes liegen und benützen das prachtvolle, aber sehr heisse Wetter für die üblichen Malerarbeiten und ausgedehnte Velotouren. Dabei entdecken wir den alten und nicht mehr befahrenen Canal Pommerœul-Antoing. Er wurde 1828 gegraben und bis 1964 befahren. Seither gehört er als Teil des Naturparks der Plaines de l’Escaut den Seerosen, den Libellen, den Fröschen und den Fische(r)n.

Der alte Canal Pommerœul-Antoing, eine Naturidylle

Der alte Canal Pommerœul-Antoing, eine Naturidylle

An einem Sonntagmorgen nehmen wir Abschied von Gérard, Anita, dem Grand Large de Péronnes und dem alten Kanal mit seinen Fischern und Libellen. Wir fahren noch ein Stück auf der Schelde – französisch «l’Escaut» – und passieren bei Maulde die belgisch-französische Grenze. Das Zollhäuschen ist schon lange nutzlos geworden und am Verfallen.

Das verlassene Zollhäuschen an der belgisch-französischen Grenze

Das verlassene Zollhäuschen an der belgisch-französischen Grenze

Geographisch sind wir jetzt in der Picardie. In der Schleuse von Pont Malin will der Schleusenwärter per Funk noch Abfahrtsort, Schiffsnummer und Fahrtziel wissen, dann biegen wir in den Canal de Saint Quentin ein.

Beginn des Canal de Saint Quentin in Estrun

Beginn des Canal de Saint Quentin in Estrun

Wäre da nicht unübersehbar ein Wegweiser gewesen, wären wir überzeugt gewesen, wir hätten uns in einen toten Seitenarm verfahren.

Kanal oder toter Seitenarm?

Kanal oder toter Seitenarm?

Gottseidank taucht eine Schleuse auf, aber mit ihr auch das nächste Problem. Weit und breit kein Schleusenwärter und Funkverbindung haben wir auch keine. Wir gehen zu Fuss zur Schleuse und versuchen es mit dem dortigen Pannentelefon. Wir erfahren, dass wir in der Schleuse Pont Malin eine Fernsteuerung hätten erhalten müssen. Der dortige Schleusenwärter habe wegen unseres Fahrtziels – Roanne – nicht realisiert, dass wir den Canal de Saint Quentin befahren würden. Man bringe uns in fünf Minuten eine Fernsteuerung. Tatsächlich taucht nach wenigen Minuten ein Servicewagen der VNF – Voies Navigables de France – auf, wir erhalten einen «Télécommandeur» und können unsere Fahrt fortsetzen. Die Schleusenelektronik ist allerdings hitzeanfällig, wie man uns entschuldigend erklärt, aber wenn eine Schleuse nicht funktioniert, ist sofort der Servicewagen zur Stelle. So erreichen wir unser Ziel, den kleinen Hafen von Cambrai, mit einem Tag Verspätung.

Im leicht verkommenen Hafen von Cambrai

Im leicht verkommenen Hafen von Cambrai

Der Hafen von Cambrai ist etwas verkommen, Strom gibt es nicht, Wasser nur auf der anderen Seite – aber dafür Schatten. Bei der drückenden Hitze wissen wir das zu schätzen. Der Hafenmeister ist freundlich und hilfsbereit. Unternehmungslustig wie wir sind, erkunden wir trotz der drückenden Hitze das Städtchen Cambrai. Während Charlotte nach einem Sommerkleidchen sucht, sitzt Christian in einem Boulevard-Restaurant beim Café und liest die Zeitung. Plötzlich merkt er, dass er Nasenbluten hat. Das ist nichts Dramatisches, aber Christian hat eigentlich nie Nasenbluten. Und was ihn irritiert: Es hört nicht auf. Er sitzt da wie Hans-guck-in-die-Luft, drückt auf die Nasenflügel – nichts hilft. Mit der Nase hoch in der Luft, sozusagen hochnäsig, und einem mittlerweile blutroten Papiertaschentuch macht er sich auf den Heimweg. Unterwegs sieht er an einem Haus ein Schild «Docteur Douce, Médecine générale». Kurz entschlossen setzt er sich ins Wartezimmer und ist auch, zwei vollgeblutete Taschentücher später, an der Reihe. Monsieur le Docteur ist freundlich, besorgt und ratlos, greift zum Telefon und ruft einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt an. Der will den Patienten selber sehen. Nach der Bezahlung von zwanzig Euro geht es also wieder hocherhobenen Hauptes das Städtchen hinauf, wo ihm Charlotte entgegenkommt, die – und das ist doch immerhin eine gute Nachricht – für fünf Euro im Ausverkauf ein luftiges Sommerkleidchen gefunden hat. Zusammen geht’s zu Docteur Daniel Carpentier, der nicht nur freundlich, sondern auch kompetent ist und nach kurzer Untersuchung eine geplatzte kleine Arterie findet. Sie wird verätzt und der Spuk hat von einer Minute auf die andere ein Ende. Kosten bei diesem Arzt sechzig Euro.

Nach diesem blutigen Intermezzo gibt’s noch einen Ruhetag in Cambrai, dann geht’s am nächsten Morgen weiter Richtung Saint Quentin.

Nach wenigen Kilometern hört Charlotte aus dem Steuerhaus Christian, der beunruhigt ruft: «Der Blutverlust war zu gross! Ich halluziniere!» Verstört berichtet er, er habe im Feldstecher auf dem Kanal einen entgegenkommenden Döschwo gesehen. Charlotte greift ebenfalls zum Feldstecher und verkündet nach einem prüfenden Blick fröhlich: «Das sind die ersten Anzeichen von Delirium tremens! Ich sehe auch einen Döschwo!»

Wenig später fallen wir uns erleichtert in die Arme: Wir halluzinieren nicht und wir haben kein Delirium tremens (Ergänzung des Korrekturprogramms: Noch nicht). Es kommt uns tatsächlich auf dem Canal de Saint Quentin ein Döschwo entgegen.

Ich bin auch ein Schiff

Ich bin auch ein Schiff

Auf der Vorderachse des Citroën 2 CV sitzen anstelle der Räder zwei Umlenkgetriebe mit Propellern und so pflügt sich das Gefährt mit dem vertrauten Döschwo-Sound durchs Wasser. Die beiden Herren grüssen huldvoll unter ihrem Sonnenschirm hervor und dann entschwinden sie zügig unseren Blicken.

Der Spuk entschwindet

Der Spuk entschwindet

Während wir uns langsam vom Schrecken dieser beinahe ausserirdischen Erscheinung erholen, scheint Kinette diese Begegnung ziemlich in die Nieten gefahren zu sein. Jedenfalls leuchtet plötzlich auf dem Armaturenbrett die Ladekontroll-Lampe rot. Ein prüfender Blick ergibt, dass die Instrumente für Öldruck, Kühlwassertemperatur, Betriebsstunden und Batterieladeladung nicht mehr anzeigen. Wir legen im Unterwasser der nächsten Schleuse an. Mit dem Messgerät stellen wir fest, dass die Dynamos Strom liefern und dass die beiden 12- und die vier 24-Volt-Akkus geladen werden. Das ist schon mal gut. Also Motor aus und auf Fehlersuche: Aus irgend einem Grund erhält das Armaturenbrett keinen Strom mehr. Negativ: Alle Sicherungen sind intakt, alle Kabel eingesteckt, die Akkukabel angeschlossen. Dann eben nicht, denken wir und Christian dreht den Zündschlüssel, um den Motor wieder zu starten.

Rien ne va plus.

Natürlich könnte man jetzt einfach den Anlasser kurzschliessen, ein Dieselmotor läuft schliesslich als Selbstzünder ohne Strom. Aber entladen wir dann möglicherweise die Startakkus? Es ist später Nachmittag und wir haben die Ursache unserer Panne nicht gefunden. Im nahe gelegenen Dorf gibt es keine Garage. Getreu nach Murphys Gesetz hat Orange hier keine Abdeckung. Also eine willkommene Abwechslung, nämlich Wanderung auf den nächsten Hügel (vorbei an einem riesigen, freilaufenden und überdies schlechtgelaunten Hund – aber das ist eine andere Geschichte), wo die Natelverbindung funktioniert. Wir rufen den Hafenmeister von Cambrai an. Er nennt uns die Firma Infrelec in Neuville Saint-Rémy, deren Autoelektriker, Monsieur Arnaud, sei kompetent. Telefon mit Infrelec, Monsieur Arnaud ist auswärts, man werde uns um 18 Uhr zurückrufen. Tatsächlich, um 18 Uhr ruft Monsieur Arnaud an, er komme am folgenden Nachmittag.

Wir haben im langsamen Lebensrhythmus der europäischen Wasserstrassen Ungeduld schon lange verlernt und benützen die Wartezeit, um all die kleinen Dinge zu erledigen, die wir schon lange erledigen wollten, aber nicht konnten, während sich die Dorfjugend von Honnecourt im hier sauberen Kanal vergnügt.

Badefreuden im Canal de Saint Quentin

Badefreuden im Canal de Saint Quentin

Tatsächlich erscheint am nächsten Nachmittag Monsieur Arnaud und lässt sich das Problem erklären. Dann beginnt er ganz systematisch beim Dynamo und arbeitet sich mit dem Messgerät bis zum Armaturenbrett hoch. Dann sagt er – und es ist für uns, als wenn Engel sängen – : «Oh, c’est pas difficile!» Ein Kabel ist defekt, wird ersetzt, der Zündschlüssel gedreht und mit dem vertrauten sonoren Sound springt unser Schiffsdiesel an. Die Kosten von € 95.68 veranlassen Charlotte zur Feststellung, dass die Pannenhilfe bei Christian und bei Kinette ungefähr gleich teuer gewesen sei.

Pannenhelfer und Kapitän im Glück

Pannenhelfer und Kapitän im Glück

Wir rufen in die Schleusenüberwachungszentrale an und melden an, dass wir am kommenden Morgen 07:30 Uhr weiterfahren möchten.

Die Schleusenüberwaschungszentrale des Canal de Saint Quentin

Die Schleusenüberwaschungszentrale des Canal de Saint Quentin

Das klappt und, nach zwei weiteren Schleusen, kommen wir vor dem Grand Souterrain de Bellicourt an, einem 5670 Meter langen Tunnel. Hier wird der Konvoi zusammengestellt, den ein «Toueur», eine elektrische Zugmaschine, mit ca. 2.5 km/h in rund zwei Stunden durch den Tunnel ziehen wird.

Am «Toueur» angehängt vor dem Grand Souterrain de Bellicourt

Am «Toueur» angehängt vor dem Grand Souterrain de Bellicourt

Es folgen die letzten Absprachen mit der Schleppermannschaft…

Letzte Absprachen mit der Schleppermannschaft

Letzte Absprachen mit der Schleppermannschaft

…und dann beginnt die zweistündige Fahrt. Jachten pflegen in solchen Situationen Dutzende von Gummifendern herauszuhängen. Damit haben wir schlechte Erfahrungen gemacht, weil diese luftgefüllten Gummizylinder viel zu viel Eigendynamik entwickeln. Zudem sind sie für unser Schiff mit seinen 50 Tonnen schlicht und einfach ungeeignet. Bei der Berufsschifffahrt haben wir die sogenannten Reibhölzer gesehen, die es aus Hartgummi und aus Holz gibt. Wir verwenden beides. Autopneus brauchen wir nur an Quais als Fender, während der Fahrt sind sie auf Deck verstaut.

Reibhölzer anstelle von Gummifendern

Reibhölzer anstelle von Gummifendern

Hier im Tunnel hängen wir das hölzerne Reibholz hinaus, das entlang der Holzleiste an der Tunnelwand schleift und gleiten völlig ruhig und mit abgestelltem Motor hinter dem «Toueur» her. Die nächsten zwei Stunden haben wir nichts zu tun und Christian leistet sich den Luxus, im Schein der Kartenleselampe ein angefangenes Buch fertig zu lesen,…

Im Tunnel von Bellicourt

Im Tunnel von Bellicourt

…unterbrochen von periodischen Kontrollgängen zu Reibhölzern und Vertäuung. Am frühen Nachmittag erreichen wir Saint Quentin, manövrieren durch den relativ trickigen Hafeneingang und legen im Vieux Port an. Der Vieux Port von Saint Quentin erweist sich als Reinfall. Als Aussicht stehen ein Silo und das Krematorium zur Verfügung und die Liegegebühr von rund € 40 pro Nacht übertrifft sogar den königlichen Jachthafen zu Brüssel. Wir bleiben nur eine Nacht und versuchen, die Kosten wenigstens insofern herauszuschlagen, als wir mit dem Landstrom waschen und tumblern was das Zeug hält.

Die Palm Beach von Saint Quentin

Die Palm Beach von Saint Quentin

Immerhin hat Saint Quentin mit einer exklusiven Attraktion aufzuwarten. Mitten auf dem grossen Hauptplatz wurde ais Anlass der Vorbeifahrt der Tour de France ein veritabler Sandstrand samt Schwimmbecken aufgebaut, sehr zur Freude der eingeborenen Kinder.

Aber der horrenden Liegegebühr wegen legen wir am nächsten Morgen ab und biegen bei Saint-Simon auf den ältesten, 1738 gegrabenen Abschnitt des Kanals, der nach 25 Kilometer in Chauny endet. Bis 1965 war dies die einzige Wasserstrasse vom Norden Frankreichs nach Paris. 1965 wurde der etwas westlicher verlaufende Canal du Nord eröffnet, dessen Schleusen von wesentlich grösseren Schiffen passiert werden können als die kleinen Schleusen auf dem Canal de Saint Quentin mit ihren Abmessungen von 38.5 x 5.6 Meter. Mit der Eröffnung des Canal du Nord brach der Verkehr auf diesem Abschnitt des Canal de Saint Quentin richtiggehend zusammen und es ist offensichtlich eine Frage der Zeit, bis sich der Unterhalt nicht mehr lohnt. So aber geniessen wir die schönste Form des Reisens überhaupt: Wir gleiten drei Stunden lang praktisch geräuschlos durch einen waldgesäumten Kanal,…

Einsamkeit auf dem alten Abschnitt des Canal de Saint Quentin

Einsamkeit auf dem alten Abschnitt des Canal de Saint Quentin

…der den Fischern und kajakfahrenden Schülern gehört. Einem anderen Schiff sind wir nicht begegnet.

Nur Kajaks und wir auf dem Canal de Saint Quentin

Nur Kajaks und wir auf dem Canal de Saint Quentin

Gegen Abend legen wir am ehemaligen Quai der Berufsschifffahrt in Chauny an, einem Städtchen mit 16’000 Einwohnern.

Am ehemaligen Quai de Commerce in Chauny

Am ehemaligen Quai de Commerce in Chauny

Die verblichene Schrift «Café de la Marine» an einem Haus am Quai zeugt von vergangenen Zeiten, als hier täglich die Pénichen, also die Frachtschiffe, be- und entladen wurden.

Glanz vergangener Zeiten

Glanz vergangener Zeiten

Auch wenn es sowohl ökologisch als auch ökonomisch Wahnsinn ist, hat – vor allem in Frankreich – der Güterverkehr auf der Strasse den Transport auf dem Wasser abgelöst. Erst wenn der Transport auf der Strasse infolge der Verkehrsdichte völlig zusammengebrochen ist, und wenn die Treibstoffpreise noch viel höher sind, wird (vielleicht) ein Umdenken stattfinden. Ein modernes Binnentransport-Schiff fasst 1’350 Tonnen (auf den ganz grossen Wasserstrassen sind noch viel grössere Schubverbände unterwegs). Das entspricht der Ladung von über dreissig 48-Tonnen-Lastwagen!

Natürlich hat diese Entwicklung für uns auch einen Vorteil: Wir können an den ehemaligen Frachtquais gratis anlegen und sind auf den schönsten Wasserstrassen praktisch allein unterwegs. In der Hochsaison trifft man gelegentlich ein Ferien- oder ein Mietboot, aber sie sind hier, im Norden Frankreichs, auch selten. In der übrigen Zeit ist es nur die kleine, aber verschworene Gemeinde der Eigner von fahrenden Wohnschiffen, die unterwegs ist.

Chauny ist ein überraschendes Städtchen. Blitzsauber, gepflegt und eine Ladenstrasse, wie man sie selten findet. Das Hôtel de Ville, das Stadthaus, zeugt von Selbstbewusstsein und Reichtum.

Das Hôtel de Ville (Stadthaus) von Chauny

Das Hôtel de Ville (Stadthaus) von Chauny

An diesem 9. Juli 2006 fiebert natürlich ganz Frankreich dem Fussball-Weltmeisterschaftsfinale entgegen. Der Dorfcoiffeur Yves Gamba – «Artisan, Coiffeur, Créateur» – schminkt, obwohl Sonntag, die Fans im Akkord.

WM-Fieber in Chauny

WM-Fieber in Chauny

Und selbst sonst ganz vernünftige Leute, von denen man dies nie denken würde, lassen sich vom Fussballfieber anstecken.

Sonst ganz vernünftige Leute lassen sich vom Fussballfieber anstecken

Sonst ganz vernünftige Leute lassen sich vom Fussballfieber anstecken

Nachdem dann aber der bedauernswerte Trezeguet einen Penalty verschossen hatte, wurde es in Frankreich still und wir verbrachten – ganz unerwartet – eine ruhige Nacht.

5 Gedanken zu „Bericht 17, Juli 2006

  1. Liebe Charlotte, lieber Christian
    Eure Reiseberichte gefallen uns gut. Diese Nähe zum kühlen Nass könnten auch wir gebrauchen. Statt dessen produzieren wir eigene Bächlein, da sieht Mann resp. Frau wieder mal, aus wieviel Wasser der Mensch besteht. Herzliche Grüsse aus dem heissen Basel (35°)
    Eure Hug’lis

  2. Frank und Frieda, mit Emile, Pia, Benjamin und Lisa verbringen ein Wochenende bei uns in unserem Hüttli in Osco in der Leventina. Wir haben zusammen eine schöne Zeit, und erinnern uns bei Merlot und Nusstorte an die guten alten Zeiten im Karibuclub. Das veranlasste uns, wiedereinmal Euere Webseite zu studieren. Mit Vergnügen lasen wir die interessanten Berichte über Mamutschleusen, Schräglifte und Schiffshebewerke.

  3. Liebe „Kinette“-Besatzung, eure Berichte sind immer spannend, die Fotos eindrücklich. Ich wünsche euch eine möglichst pannenfreie und interessante Weiterfahrt.Herzlich grüsst aus dem Toggenburg Ueli Wenger

  4. Konnten dieses Jahr leider keine Hausbootferien machen – warten deshalb jeweils gespannt auf Euer
    Reisetagebuch!!
    Wir wünschen eine schöne Zeit!
    Edith und Walter Gschwendtner, Hinwil

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