Bericht 3, Juni/Juli 2005

Wir waren insgesamt drei Wochen in Belgien und fragen uns, was denn eigentlich «typisch belgisch» ist, oder zumindest, was uns auffällt im Vergleich mit der Schweiz. Natürlich haben wir dieses kleine Land bisher nur sehr einseitig erlebt: Nur Wallonien und hauptsächlich vom Wasser aus. Aber einige Dinge sind uns doch aufgefallen.

So als erstes der ziemlich unbeschwerte Umgang mit der Natur. Aus wallonischen Industriekaminen qualmt es, wie es in den Niederlanden und natürlich in der Schweiz undenkbar wäre. Den weissen Rauch kann man noch als Wasserdampf abtun, aber der braune legt sich wie ein Schleier über die Hausdächer der Umgebung. Bevor man in einer Stadt am Quai anlegt, tut man gut daran, nach der Kanalisation Ausschau zu halten. Was vielerorts in den Fluss fliesst, hat vorher keine Kläranlage gesehen. Handkehrum war aber am gleichen Fluss der Tankwart des Versorgungsschiffs, bei dem wir Diesel bunkerten, peinlich darauf bedacht, dass kein Tropfen Diesel neben unserem Tankstutzen vorbei ins Wasser lief. Vorbildlich sind auch die Fischleitern bei den Schleusen und Wehren, welche erst die Fischwanderung ermöglichen.

Kulinarisch ist Belgien ein Land, in dem sehr gerne und vor allem sehr viel gegessen wird. Was hier als gemischter Salat zur Vorspeise serviert wird, erfüllt alle helvetischen Kriterien einer vollwertigen Mahlzeit. Belgische Pommes frites sind selbst in den Niederlanden ein Begriff und viele Belgier und Belgierinnen sind massiv übergewichtig. Ein aufgeklapptes Baguette-Brot, darin eine Portion Pommes frites mit viel Mayo ist eine nicht unübliche Zwischenverpflegung. Das belgische Nationalgetränk ist Bier und selbst wir Weinliebhaber müssen zugeben, dass es absolut köstliche Biere gibt. Die Bier-Vielfalt ist beeindruckend. Vierzig bis fünfzig verschiedene Biersorten und -marken in einem Ladengestell sind keine Seltenheit.

Für schweizerische Zeitungsleser ist die Namensnennung in belgischen (und übrigens auch in französischen Regionalzeitungen) Zeitungen ungewohnt. Während in der Schweiz selbst in spektakulären Kriminalfällen die handelnden Personen nur mit den Initialen genannt werden, werden in belgischen Zeitungen bereits bei Verkehrsunfällen Name, Alter und Wohnort aller Beteiligten veröffentlicht.

Eine Kostprobe aus dem «L’avenir» vom 21. Juni 2005 in freier Übersetzung: «Ein tragisches Schicksal traf gestern Nachmittag auf der Nationalstrasse 90, auf der Höhe der Industriezone von Engis, einen jungen Pannenhelfer. Um ungefähr 15 Uhr erlitt ein Sattelschlepper der Firma Kempeneers aus Nieuwerkerken einen Reifenschaden vorne rechts. Der Fahrer, Fredy Streel, wohnt in Tongres und ist 39 Jahre alt. Weil er nicht mehr weiterfahren konnte, entschied er sich, sein Fahrzeug auf dem Pannenstreifen stehen zu lassen. Allerdings ragte ein Teil des Fahrzeugs in die Fahrbahn. Für die Reparatur liess Freddy Streel den 28jährigen Pannenhelfer Christophe Meurice aus Ciney kommen. Dieser stationierte sein Fahrzeug mit drehenden Blinklichtern vor und nicht hinter dem Sattelschlepper. Zudem wurde kein Pannendreieck aufgestellt. Im gleichen Zeitpunkt fuhr Kevin Leclère (23) mit seinem Zugfahrzeug der Marke Palifor Richtung Huy. Weil er genau zu diesem Zeitpunkt von einem anderen Fahrzeug überholt wurde, konnte er nicht nach links ausweichen und überfuhr Christophe Meurice, der dabei gewesen war, den Wagenheber zu installieren. Christophe Meurice verschied auf der Unfallstelle.»

Man kann zu dieser Namensnennung stehen, wie man will: Sie ist möglich in einem europäischen Land, das als Wiege der EU gelten darf und das den Menschenrechten verpflichtet ist. Möglicherweise ist die belgische Gesellschaft weniger anonym und weniger gleichgültig oder dann sensationslüsterner als die schweizerische. Vielleicht auch beides.

Beeindruckend in Belgien sind die riesigen Supermärkte mit einem beinahe unüberschaubaren Angebot. Besonders schätzen wir Supermärkte wie denjenigen in Wépion vor der belgisch/französischen Grenze. Die Vorderfront liegt an einer Strasse. Hinten aber fliesst die Maas und der Supermarkt hat einen Anlegesteg, der auch für Grossschiffe geeignet ist. Man kann bequem mit dem Einkaufswagen durch den Hinterausgang der Parkgarage direkt zum Schiff fahren. Wer jeweils für einige Wochen einkaufen muss, weiss das zu schätzen. Allerdings sind wir uns der Kehrseite der Medaille bewusst. Viele Städtchen veröden und reihenweise sind Ladenlokale, Wohnungen und Häuser «à vendre» oder «à louer», weil der Detailhandel der Konkurrenz auf der (einstmals) grünen Wiese nicht gewachsen ist.

Hinzugelernt haben wir, was Hafenplätze und Übernachtungsmöglichkeiten betrifft. Anfänglich haben wir oft – wenn für ein Schiff unserer Länge überhaupt ein Platz vorhanden war – in Jachthäfen angelegt, wo es Elektrisch und Wasser gibt. Heute machen wir das nur noch, wenn es wirklich nicht mehr anders geht, weil die Übernachtungsgebühr pro Meter Schiffslänge berechnet wird. Mit unseren rund 23 m Länge läppern sich ein oder anderthalb Euro pro Meter ganz schön zusammen. Also legen wir oft an Orten an, welche für grössere Schiffe eingerichtet wurden und nichts kosten. Punkto Strom und Wasser sind wir ja für längere Zeit autonom.

Um noch etwas bei Belgien zu bleiben: Wir wissen zwar nicht, ob das eine belgische Spezialität ist, aber aufgefallen ist uns in Namur eine Patrouille der Stadtpolizei auf Rollerblades, angeschrieben als «Roller Team». Keine Chance für davonrennende Taschendiebe!

Was die Preise betrifft, fühlen wir uns in Belgien recht gut aufgehoben. Kauft man hier einen Artikel, der auch in der Schweiz erhältlich und deshalb auch in Schweizerfranken angeschrieben ist, dann wird der Begriff «Hochpreisinsel» Realität. Die Rückseite der Preisetikette eines Modeartikels illustriert dies trefflich.

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Bei einem Kurs von SFR 1.54 für den Euro müsste der Schweizerpreis Fr. 35.35 betragen. Er beträgt aber Fr. 45.90! Das sind in der Schweiz Fr. 10.55 mehr als im EU-Raum resp. rund 30%. Dabei ist die Mehrwertsteuer in der EU viel höher als in der Schweiz. Eine weitere belgische Eigenheit ist erwähnenswert: Der Dieselpreis. In ganz Europa müssen Schiffe und Strassen-Motorfahrzeuge weissen (hoch zollbelasteten) Diesel für über 1 Euro/Liter tanken. Der rote (zollbegünstigte) Diesel – Heizöl – ist Heizungszwecken vorbehalten. Der rote Diesel kostet zur Zeit 60 Eurocents. In Belgien gibt es überhaupt nur roten Diesel, weshalb gewiefte Skipper mit praktisch leerem Tank nach Belgien einfahren. Dem Vernehmen nach dauert diese Herrlichkeit allerdings nicht mehr lange.

Während unserer Zeit auf belgischen Gewässern erlebten wir zwei Höhepunkte: Erstens der Besuch unserer Tochter, die eine Woche mit uns fuhr. Auch wenn unsere Kinder schon lange ausgeflogen sind, vermissen wir doch den regelmässigen «Sichtkontakt» mit ihnen. Umso mehr genossen wir alle dieses Zusammensein. Weil das Wetter mitspielte, konnten wir ihr die Schifffahrt von ihrer angenehmsten Seite zeigen.

Zweiter Höhepunkt war natürlich der Besuch eines Teams von TeleZüri mit Markus Gilli. Sie nahmen einen SommerTalk auf, der nach unserem aktuellen Wissensstand am 8. August gesendet wird. Die Dreharbeiten an Bord mit einem ganzen Team samt Scheinwerfern und 3 Kameras waren für alle eine neue Erfahrung. Am meisten beschäftigt war wohl die Visagistin, weil wir wegen der Hitze das Make up ständig wegschwitzen… Jedenfalls liess sich das TeleZüri-Team von der Hitze nicht beeindrucken und arbeitete routiniert und professionell.

Noch eine politische Anmerkung: Ob die EU im Grossen funktioniert, können wir aus unserer Froschperspektive nicht beurteilen. Im praktischen Alltag hat man jedenfalls nicht immer das Gefühl, man bewege sich in einer wirtschaftlichen, geschweige denn politischen Gemeinschaft. Dazu drei Beispiele: Der belgischen und dann der französischen Maas entlang führt eine Bahnlinie. Es ist aber nicht möglich, von Namur (B) nach Charleville-Mézières (F), zu fahren. Die Bahnlinie endet nämlich an der jeweiligen Grenze und von Dinant (belgische Grenzstadt) bis Givet (französische Grenzstadt) führt eine Buslinie… Dass die Fahrpläne nicht aufeinander abgestimmt sind, ist fast schon selbstverständlich. In der Praxis hat das zur Konsequenz, dass man per Bahn via Paris fahren muss! Für AVIS Frankreich – als weiteres Beispiel – ist Belgien Ausland. Ein Auto in Charleville-Mézières (F) zu mieten, ist zwar möglich. Unmöglich aber, es am Flughafen Brüssel bei der dortigen AVIS-Vertretung abzugeben. Begründung: Einwegfahrten sind nur im Inland möglich. Drittes Alltagsbeispiel sind die Butan-Gasflaschen, die wir zum Kochen und für die Kühlschränke brauchen. «Belgische» Gasflaschen werden in Frankreich schlichtwegs nicht eingetauscht, obwohl sie die gleichen Dimensionen und Gewinde haben wie die französischen Gasflaschen. Man könnte auch noch die Roaming-Gebühren erwähnen, die Orange Niederlande verlangt, wenn man auf dem Orange-Netz Frankreich telefoniert, obwohl ja alles dasselbe Netz ist.

Was wir auf dem Wasser immer wieder erleben, ist Freundlichkeit, Herzlichkeit, spontane Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft. Unterwegs sahen wir in einem Hafen ein Schiff mit dem Wimpel der Dutch Barge Association, der wir auch angehören. Wir gingen hin, stellten uns vor und wurden sogleich zur Schiffsbesichtigung und einem Kaffee eingeladen. Die Schiffseigner Frits und Nell, ein holländisches Ehepaar, er Zahnarzt, sie Juristin, leben seit 5 Jahren einen grossen Teil des Jahres auf ihrer «Shell V», einem ehemaligen Ölbunkerboot von 18 m Länge. Wir fuhren in der Folge gemeinsam einige Tage maasaufwärts. Wir haben in dieser Zeit viel von Nell und Frits gelernt, insbesondere in den Schleusen und bei der abendlichen Suche nach einem geeigneten Anlegeplatz. Als sich unsere Wege in Namur trennten – sie fuhren auf der Sambre weiter, wir maasaufwärts – stand fest, dass wir sie im Herbst auf der Rückfahrt in ihrem holländischen Heimathafen besuchen werden.

An einem Liegeplatz im Oberwasser der Schleuse «Les Grands Malades» vor Namur lernten wir Rob kennen, einen liebenswert kauzigen und ganz allein fahrenden Neuseeländer auf seiner «Award». Das Bemerkenswerteste an ihr ist ihr aus den fünfziger Jahren stammende Zweizylinder-Diesel Marke MWM. Der Startvorgang ist eine rund zehnminütige Zeremonie, der wir mehrmals mit Andacht beiwohnten. Für Experten: Die Maschine wird mit Zündfix und Pressluft gestartet und dreht dann mit 300 Touren. Wir haben in Belgien tagelang zusammen geschleust und es war für uns selbstverständlich, dass wir ihm bei den Schleusenmanövern halfen, weil er schlicht eine Hand zuwenig an Bord hatte.

In einer Schleuse in Belgien schleusten wir einmal mit dem niederländischen Berufsschiffer-Ehepaar Wim und Sapke auf ihrer ebenfalls 22.5 m langen «Wisa». Seit 32 Jahren ist die «Wisa» ihre Wohnung, wenn sie nicht mit Fracht auf Fahrt sind. Auch ihnen sind wir maasaufwärts immer wieder begegnet, haben Erfahrungen ausgetauscht und uns gegenseitig ständig via Funk orientiert.

In den ersten Julitagen fuhren wir weiter gemächlich maasaufwärts durch die französischen Ardennen. Skipper Christian feierte in Haybes seinen 61. Geburtstag, was den lokalen Bäcker zu Höchstleistungen anspornte. Die Überraschung gelang meiner Mannschaft, bestehend aus der Skipperin und Feriengästen, jedenfalls perfekt.

Je weiter maasaufwärts wir fuhren, desto kleiner wurden die Schleusen und die Schleusenmanöver gediehen zur Massarbeit. Dabei bedauern wir, dass die Schleusenwärter und -wärterinnen, die immer für einen Schwatz zu haben waren (und die besten Liegeplätze kannten) durch Fernsteuerungen und automatische Schleusentore ersetzt worden sind. Heute trifft man die Schleusenwärter nur noch, wenn eine Schleuse «en panne» ist.

Dafür hat man auf der oberen Maas streckenweise das Gefühl, in einem Naturpark zu fahren. Kommerziellen Frachtverkehr gibt es hier praktisch keinen mehr und Bootsvermietungen haben sich (noch) nicht etabliert. Wie lange die zuständigen Behörden bereit sind, Geld für den Unterhalt von Kanälen und Schleusen auszugeben, ist daher offen. Offiziell heisst die Maas hier übrigens «Canal de l’Est (Branche Nord)». Diese Benennung hat den englischen Reiseschriftsteller Hugh McKnight zu der Bemerkung veranlasst: «It is a marvel of French Bureaucracy that one of the country’s most attractive river navigations should officially be known as the Canal de l’Est (Branche Nord).»

Jedenfalls haben uns die aus napoleonischer Zeit stammenden Bauwerke, die zur Schiffbarmachung der Maas errichtet werden mussten, sehr beeindruckt. Davon einige Bilder als Kostproben.

Mitte Juli sind wir in Pont-à-Bar angekommen. Hier zweigt der idyllische, aber schmale Canal des Ardennes von der Maas resp. vom Canal de l’Est ab. Der Ardennenkanal führt nach Westen in die Aisne, ist 87 km lang und hat 44 Schleusen. Der Canal de l’Est hinwiederum führt südlich nach Sedan, Verdun und in die Gegend von Nancy. Die letzten 14 Tage fuhren Freunde mit uns, welche uns hier verlassen. Markus mit seinen beiden Kindern Irina und Kasimir hat im Logbuch von Kinette einen Ehrenplatz erhalten. Handwerklich hoch begabt, hat er u.a. das Teakholz-Oberlicht der Achterkajüte, das im niederländischen Winter stark gelitten hatte, in stundenlanger Arbeit restauriert.

Im Moment liegen wir in der Nähe von Pont-à-Bar. Wir werden sehr spontan entschliessen, in welche Richtung die Reise weitergeht. Die Zwischenbilanz jedenfalls ist positiv. Hinter uns liegen rund 800 Fluss- und Kanalkilometer sowie 67 Schleusen unterschiedlichster Grösse. Wir sind reich beschenkt worden mit eindrücklichen Landschaftsbildern und unzähligen neuen Eindrücken. Immer wieder tauchten und tauchen Probleme und Problemchen auf, aber jedes erwies sich als lösbar.

Bei dieser Gelegenheit möchten wir allen Freunden und Bekannten, welche uns ein Mail geschickt haben, herzlich danken. Wir freuen uns über jedes Mail!

Diesen Dank verbinden wir mit der Bitte, diesen Mails keine Bilder oder Grafiken anzuhängen. Wir mailen via Notebook und Natel. Das Herunterladen von Bildern dauert Stunden!

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